Mütter als Täter
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Nicht nur Männer missbrauchen Kinder. In Bayern wird einer 51-Jährigen vorgeworfen, sich jahrelang an ihrem nun acht Jahre alten Sohn vergangen zu haben. Für Experten ist das kein Randphänomen.

In der Welt von Heinz W.* ist nichts mehr so, wie es noch vor einigen Monaten war. "Ich weiß nicht mehr, wo mir der Kopf steht", sagt der 54-Jährige: Von seiner Frau Sabine D., 51, lebt er jetzt getrennt, in dem gemeinsamen Haus wohnt er nicht mehr. Es ist etwas Ungeheuerliches passiert: W.s Frau, mit der er seit 14 Jahren verheiratet ist, wird verdächtigt, ihren gemeinsamen Sohn Lukas, 8, womöglich über Jahre hinweg sexuell missbraucht zu haben. Die Haushälterin und Bekannte belasten Sabine D. schwer. Die Übergriffe seien ganz offen passiert, im eigenen Haus, berichtete die Haushälterin den Ermittlern. Sabine D. sitzt nun in Bayern in Untersuchungshaft.

Seit Wochen wird über den Missbrauch an Kindern in Kirchen, Internaten oder Heimen berichtet. Die Beschuldigten sind fast immer Männer. In der Kriminalstatistik spielen Frauen als Täterinnen eine untergeordnete Rolle. Nur vier Prozent aller Verdächtigen sind weiblich. Und dennoch: Experten schätzen, dass die Dunkelziffer des Missbrauchs durch Frauen bei 15 Prozent liegt.
Der Sohn fasste seinem Vater an die Genitalien

Heinz W., Architekt wie seine Frau, erinnert sich noch genau an die ersten Anzeichen. "Es begann im Frühjahr 2008. Lukas hat mir immer einfach so an die Genitalien gefasst", berichtet der Vater. "Ich dachte mir, das ist doch nicht normal. Aber meine Frau meinte: 'Lass nur - das darf er bei mir doch auch.' Mein Sohn lachte mich nur aus." Dieses Verhalten überrascht Experten nicht: Das sei ein ganz typisches Phänomen, sagt die Pädagogin Gisela Braun von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen. "Die Kinder verleugnen den Missbrauch. Sie tun so, als würden sie den Missbrauch genießen. Sie versuchen, ihre eigene Ohnmachtserfahrung zu reduzieren."

Heinz W. sagt, er habe immer wieder probiert, mit seiner Frau über mehr Distanz zu reden, sie zu überzeugen, Lukas endlich im eigenen Bett schlafen zu lassen. "Ich hatte keine Chance. Sie wurde richtig wütend, wenn ich diese Dinge angesprochen habe", sagt W. Im Frühjahr 2009 sei der Streit um das Kind dann eskaliert, seine Frau habe ihn aus dem Haus geworfen. W. wollte Klarheit darüber, was mit seinem Sohn los war. Er fragte Lukas' Lehrer, die ihm von einem sehr auffälligen Kind berichteten, das ständig Mitschüler ärgere. "Bei mir schrillten die ersten Alarmglocken", sagt W. Erst recht, als er mit der langjährigen Haushälterin gesprochen hatte. "Sie erzählte mir von täglichen Ritualen. Sie berichtete von schwerem sexuellen Missbrauch." Details will W. aus Rücksicht auf das Kind nicht veröffentlichen. Aber er betont: "Es ging nicht nur um einfaches Anfassen. Es war weit mehr. Ich war schockiert, denn davon habe ich nie etwas mitbekommen."

"Auf diese Idee kommt kein Mensch"

Wie schwierig es ist, den Missbrauch von Kindern durch Frauen zu erkennen, bestätigt auch die Expertin. Es sei für Männer schon so kaum vorstellbar, dass ein Junge von einer Frau missbraucht wird, meint Pädagogin Braun. Wenn es dann noch den eigenen Sohn trifft, der zum Opfer der eigenen Mutter wird, übersteige dies den normalen Verstand. "Auf diese Idee kommt kein Mensch. Schließlich ist es doch die Frau, die der Mann liebt."

Dies ist auch einer der Gründe, warum der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Frauen, speziell durch ihre Mütter, nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist. So sieht das zumindest Gisela Braun, die 2001 die Broschüre "Frauen als Täterinnen bei sexueller Gewalt gegen Mädchen und Jungen" verfasst hat. Die Forschung traue sich kaum an das Thema heran, klagt Braun. "Man möchte sich anscheinend das Bild der guten Mutter bewahren."

Ganz offensichtlich zu Unrecht. Denn dass sich weit mehr Frauen an Kindern vergehen als gemeinhin angenommen wird, zeigen die - spärlichen - Untersuchungen. So geht die Berliner Soziologin Barbara Kavemann davon aus, dass bis zu 15 Prozent der missbrauchten Kinder Opfer von weiblichen Tätern wurden. In einem Aufsatz schreibt sie: "Frauen, die Kinder sexuell missbrauchen, leben meist mit ihren Opfern zusammen. Es sind ihre eigenen oder ihnen anvertraute Kinder."

Das kann auch Carmen Osten bestätigen. Die Psychologin vom Kinderschutzbund München betreut seit rund 20 Jahren Opfer und Täter von sexueller Gewalt. Und schon immer seien auch Frauen und Mütter unter den Tätern gewesen. "Es sind beileibe keine Einzelfälle", sagt Osten. "Die Gefahr ist, dass man Müttern sowas nicht zutraut, wegschaut und sagt: Das ist doch nicht so schlimm, die wollen doch nur das Beste für ihr Kind."

Ein Bekannter zeigte die Mutter an

Vater Heinz W. beteuert, er habe nicht weggeschaut, sondern einfach nichts von dem Treiben seiner Frau mitbekommen. "Diese Dinge fanden statt, als ich nicht dabei war." Wahrscheinlich, so denkt W., habe sich seine Frau vor der Haushälterin sicher gefühlt. Der Polizei sagte die Haushälterin: "Ich hatte gar keine Chance, irgendwelche Anschuldigungen zu erheben. Ich bekam zur Antwort, dass ich mir überlegen soll, wem ich was sage. Denn wem würde man eher etwas glauben: Der Putzfrau oder der Frau Architektin?"

Ein Bekannter des Ehepaares - er hatte ebenfalls einige Übergriffe bemerkt - zeigte Monika D. im Sommer 2009 an. Doch die Staatsanwaltschaft hatte Zweifel an den Aussagen der Haushälterin. "Es gab Anzeichen dafür, dass die Zeugin beeinflusst wurde", sagt Barbara Stockinger, Sprecherin der Staatsanwaltschaft München. Der Fall wurde im Herbst 2009 eingestellt, der Sohn blieb bei der Mutter. Das Jugendamt München sah keine Veranlassung, Lukas vor seiner Mutter zu schützen. Amtsleiter Uwe Hacker wollte sich zu dem konkreten Fall nicht äußern. Er versichert aber, man habe sich stets am Kindeswohl orientiert.

Dabei weist die Zeugenaussage der Haushälterin, die stern.de vorliegt, auf eine jahrelange Misshandlung des Buben hin. Demnach missbrauchte Sabine D. ihren Sohn nicht nur massiv sexuell, sie ließ ihn geradezu verwahrlosen, wusch ihn selten, gab ihm wenig zu essen und hielt ihn vom Kontakt mit Gleichaltrigen ab. "Ein absoluter Skandal", wettert W.'s Anwalt Johannes Hock. "Die Aussagen der Haushälterin bei der Polizei waren eindeutig. Die Staatsanwaltschaft hätte das Verfahren nie einstellen und das Kind hätte nicht bei der Mutter bleiben dürfen."
Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr

Eine Beschwerde des Anwalts hatte Erfolg. Vor einigen Wochen nahmen die Ermittler ihre Arbeit wieder auf. Neue Informationen hätten ergeben, dass eine "konspirative Absprache" wohl doch nicht stattgefunden habe, heißt es von der Staatsanwaltschaft. Die Haushälterin wurde ausführlich vernommen. Dann ging alles sehr schnell. Seit Ende März sitzt Monika D. in Untersuchungshaft - Fluchtgefahr. "Wir ermitteln gegen die Frau wegen des Verdachts des schweren sexuellen Missbrauchs ihres Kindes", bestätigte Barbara Stockinger. Die Anwälte von Monika D. wollten sich nicht äußern. Die Staatsanwaltschaft geht von langwierigen Ermittlungen aus. "Es ist ein sehr komplexer Fall", sagt Sprecherin Stockinger. Taten im familiären Umfeld seien zudem immer sehr schwierig aufzuklären. Denn es spielten dabei sehr viele Emotionen und persönliche Beziehungen eine Rolle. Soll heißen: Bei Trennungsfällen wird im Kampf ums Kind manchmal auch der Vorwurf des Missbrauchs gezielt eingesetzt.

Lukas lebt seit der Inhaftierung seiner Mutter nicht beim Vater sondern in einer Pflegefamilie in der Obhut des Jugendamtes. Heinz W. ist empört, schließlich habe er nichts Unrechtes getan. Er wisse nicht mal, wo sein Sohn nun sei, er habe ihn in den vergangenen Wochen nur einmal kurz gesehen. Man wolle eine "gewisse Ruhe reinbringen", sagt Jugendamtsleiter Hacker. Er müsse noch "einiges überprüfen", bevor Lukas zu seinem Vater dürfe.

Warum der Bub offensichtlich zum Sexualpartner seiner Mutter wurde, ist noch unklar. Die Täterinnen seien als Kind oft selbst Opfer gewesen, sagt Psychologin Carmen Osten. Viele hätten in ihrer eigenen Kindheit und Jugend Missbrauchserfahrungen in der Familie und später auch mit ihrem Partner gemacht. "Diesen Menschen fehlt es dann ihrerseits an Einfühlungsvermögen, aber auch daran zu erkennen, was die Bedürfnisse eines Kindes sind und wo dessen Grenzen liegen."

Einfühlungsvermögen, aber gleichzeitig die nötige Distanz: Für Experten sind das zwei ganz wichtige Faktoren in der Erziehung eines Kindes. Sie helfen dabei zu entscheiden, was noch zur erlaubten und notwendigen körperlichen Nähe gehört, und wo die Grenze zum Missbrauch überschritten ist. Carmen Osten bringt es auf den Punkt: "Man spricht von sexuellem Missbrauch, wenn es bei den Berührungen um die Bedürfnisse des Erwachsenen geht. Also dann, wenn der Erwachsene etwas tut, was nur ihm selbst etwas bringt. Das gilt für den Vater wie auch die Mutter."

*(alle Namen von direkt Beteiligten und deren Berufe von der Redaktion geändert)

Quelle: Stern.de
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