Susan Forward: Vergiftete Kindheit
#5
Einzel- oder Gruppentherapie?

Ein fast unumgängliches Gefühl bei Inzest ist die völlige Isolierung. Doch wenn sie sich unter Menschen befinden, die über Gefühle und Erfahrungen reden, die den Ihren sehr ähneln, schwindet diese Einsamkeit. Die Mitglieder der Gruppe unterstützen Sie und kümmern sich um Sie. Grundsätzlich sagen sie: “Wir wissen, wie Du dich fühlst. Es tut uns mit dir weh. Wir mögen dich und wollen, das es dir so gut Geht, wie möglich.”

Nur wenige Menschen fühlen sich in einer Gruppe nicht wohl, obwohl die meisten anfangs ängstlich sind. Sie fühlen sich vielleicht angespannt und verlegen, vor anderen Menschen “darüber” zu reden. Aber glauben Sie mir, diese Gefühle halten selten länger, als 10 min an.

Eine kleine Minderheit von Inzestopfern in einer Gruppe ist allerdings emotional zu empfindlich, um die Intensität der Gruppe zu bewältigen. Für sie besteht die Alternative in der Einzeltherapie.

Ich habe immer gemischte Gruppen mit Männern und Frauen. Die Gefühle und Traumata sind die gleichen.

Die Inzest-Therapiegruppen in meinem Behandlungszentrum sind offen. Das bedeutet auch, das jemand, der gerade erst mit dieser Arbeit beginnt, sich in einer Gruppe mit Personen in verschiedenen Stadien der Heilung befindet. Es ist sehr ermutigend, andere zu sehen, die kurz vor dem Abschluss stehen und die Inzesterfahrung bald hinter sich lassen können.

Die erste Gruppensitzung

Wenn ein neuer Klient in eine Gruppe kommt, beginnen wir die Sitzung mit einer Initiationsübung, bei der jedes Mitglied von seiner oder ihrer Inzesterfahrung spricht - mit wem sich was abspielte, wann es begann, wie lange es sich fortsetzte und wer darüber Bescheid wusste. Das neue Mitglied ist zuletzt an der Reihe.

Diese Initiation bricht das Eis, damit man sich aktiv an der Gruppe beteiligen kann. Vielleicht reden Sie zum ersten Mal überhaupt offen über Ihre Erfahrung. Sie werden erkennen, dass Sie nicht allein sind und dass andere Menschen ähnliche Dinge erlitten haben.

Ihre Initiation ist auch Bestandteil des wichtigen Desensibilisierungsprozesses der anderen Gruppenmitglieder. Jedes Mal, wenn ein neuer Klient initiiert wird, müssen die bisherigen Mitglieder wiederholen, was so lange unausgesprochen blieb. Je öfter dies geschieht, um so stärker wird jeder in der Gruppe gegenüber Scham und Schuldgefühlen desensibilisiert. Das erste Mal ist für alle schwierig. Es wird häufig geweint, und Verlegenheit herrscht vor. Beim dritten oder vierten Mal wird es schon leichter, darüber zu reden, und die Verlegenheit schwindet merklich. Wenn man seine Geschichte zehn oder zwölf mal erzählt hat, ist es nicht schwieriger, als über jede andere Lebenserfahrung zu reden.
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