Susan Forward: Vergiftete Kindheit
#13
Brief an das verletzte Kind

In vieler Hinsicht ist der Brief an as verletzte Kind in Ihnen der schwerste, doch vielleicht ist er auch der wichtigste. Das Schreiben dieses Briefes beginnt mit dem Prozess, sich wieder Eltern zu geben. Das bedeutet, Sie müssen tief in sich suchen, um einen liebenden, wertvollen Elternteil für das verletzte Kind zu finden, das Sie immer noch in sich tragen. Es ist ein Elternteil, der durch diesen Brief denjenigen Bereich in Ihnen tröstet, beruhigt und schützt, der immer noch verletzlich und ängstlich ist.

Viele Menschen, die als Kinder sexuell misshandelt wurden, sind von ihrem inneren Kind entfremdet. Ihre Scham drückt sich in Verachtung und Hass für jenes “unzulängliche”, hilflose Kind aus.
Um sich gegen solche extrem schmerzlichen Gefühle zu wehren, haben Sie vielleicht versucht, sich von diesem Kind zu distanzieren, aber es kann nur verborgen, nicht verlassen werden.

Ich möchte, dass Sie in diesem Brief versuchen, dieses Kind anzunehmen und wieder in Ihre Persönlichkeit zu integrieren. Seien Sie ein liebevoller Elternteil. Geben Sie diesem Kind die Liebe und Unterstützung, die Sie selbst nie hatten. Geben Sie ihm zum ersten Mal das Gefühl, wertvoll zu sein.
Dan, der Ingenieur, der während seiner gesamten Kindheit und Adoleszenz vom Vater sexuell missbraucht worden war, hatte lange den kleinen Jungen gehasst, der er einst gewesen war, den kleinen Jungen, der zu schwach gewesen war, sich gegen seinen Vater u wehren. Der folgende Auszug aus seinem Brief an diesen kleinen Jungen zeigt, wie dramatisch diese Gefühle sich nach nur wenigen Sitzungen verändert hatten:

Lieber kleiner Dan,

Du warst ein wunderbares Kind, eine Unschuld. Du warst die reine Liebe. Ich werde mich von nun an um dich kümmern. Du warst begabt und sehr kreativ. Ich werde dir Stimme geben. Jetzt bist Du sicher. Du kannst lieben und Liebe empfangen. Du wirst nicht mehr verletzt. Jetzt kannst Du unterscheiden. Ich werde mich um uns beide kümmern. Ich bringe uns wieder zusammen. Wir waren immer getrennt und haben verschiedene Rollen gespielt, weil wir lernen mussten, mit allem fertig zu werden. Du bist nicht verrückt. Du hattest Angst. Er kann dir nun nicht mehr weh tun. Ich habe mit dem Trinken und mit den Drogen aufgehört, die deine Wut, deine Empörung, deine Traurigkeit, deine Depression, deine Schuldgefühle und deine Angst verbargen. Diese Gefühle kannst Du jetzt ablegen. Ich habe aufgehört uns zu bestrafen wie er. Ich habe mich dem Schicksal ergeben. Wir sind wertvoll. Ich bin wertvoll. Die Welt, die wir erfanden, ist zu Ende. Wir erwachen. Es tut immer noch weh, aber nicht mehr so stark. Und endlich ist alles Wirklichkeit.

Dan

Dan benutzte diesen Brief nicht nur, um mit dem Kind in sich zu kommunizieren, sondern um sich zu versichern, dass seine Entscheidung, Drogen und Alkohol zu entsagen, ein Schritt sei, der sein Ich bestätigte und stabilisierte. Beim Schreiben dieses Briefes begriff er zum ersten Mal die Verbindung zwischen seinem selbstzerstörerischen Verhalten und den Schmerzen seiner Kindheit.
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