Susan Forward: Vergiftete Kindheit
#14
Das Märchen

Nach diesen drei Briefen sollen Sie Ihr Leben in märchenhafter Sprach und Begriffen beschreiben. Sie schreiben über sich selbst als kleine Prinzessin oder sanften jungen Prinzen, der bei bösen Königen oder hässlichen Monstern und Drachen in dunklen Wäldern oder Ruinen lebte. Sie beschreiben den Inzest als schwarze Pest, ein Gewitter oder das Ende aller Freude, je nachdem, was Ihre Fantasie Ihnen eingibt. Bei diesem Märchen schreiben Sie zum ersten Mal in der dritten Person, statt in der Ich-Perspektive. Das hilft, Ihre Innenwelt von einem neuen, objektiveren Standpunkt aus zu erkennen und emotionalen Abstand zwischen Ihnen und Ihren Kindheitstraumata zu schaffen. Indem sie das kleine Mädchen als “sie” statt “ich” bezeichnen, beginnt der scharfe Schmerz der Erinnerung nachzulassen. Wenn Sie Ihre Gefühle symbolisch ausdrücken, können Sie auf einer Ebene mit Ihnen umgehen, die sie bislang noch nicht erreicht haben, und neue, deutlichere Erkenntnis daraus gewinnen, was damals mit Ihnen geschah.

Die einzige Vorschrift dabei ist, dass Ihr Märchen trotz seines traurigen Anfangs ein glückliches Ende hat. Das Märchen ist immer die Allegorie Ihres eigenen Lebens, und es besteht tatsächlich Hoffnung. Das mögen Sie zu Beginn der Arbeit vielleicht nicht glauben, aber wenn Sie optimistisch über die Zukunft schreiben, beginnen sie, positivere Bilder zu sehen. Das ist besonders wichtig für Menschen, die sich keine glückliche Zukunft vorstellen können. Mit der Ausmalung eines glücklicheren Lebens können Sie beginnen, sich konkrete, erreichbare Ziele zu setzen, und wenn man erst einmal Ziele hat, besitzt man etwas, auf das man zuarbeitet.

Ich werde nie vergessen, wie Tracy - die von ihrem Vater, dem Versicherungsvertreter, sexuell missbraucht worden war, ihr Märchen vorlas. Es war sehr lang, daher folgt es hier nur in Auszügen. Die Wahrheit und die Hoffnung, die sie durch diese Übung finden konnte, änderten Tracys Sicht ihrer eigenen Situation dauerhaft.

Es war einmal eine kleine Pflanze, die in einem sehr einsamen, von Bergen umgebenen Tal lebte. Diese kleine Pflanze hieß “Ivy” (eine Abk. für “incest-victim” - Inzestopfer) und war recht unglücklich. Sie starrte oft zum Fluss und wünschte sich, ans andere Ufer zu entkommen.
Ivys kleiner Winkel wurde von dem berüchtigten König Moris Lester regiert, den man als Moe kannte. Wenn man seinen Spitznamen und den Nachnamen zusammenzieht, wird daraus Moe Lester (“molester” - Sexualtäter), und was man dann hört, ist auch, was man bekommt.
Moe hatte eine Leidenschaft für junge zarte Pflänzchen. Als Ivy zu blühen begann, erspähte Moe sie und war ganz begeistert von der Tatsache, das sie zwar reif war, aber noch so jung, wie sie nur sein konnte. Moe beging an Ivy eine schlimme Tat nach der anderen, aber dennoch verehrte sie ihn weiter und behandelte ihn wie einen König.
Moe hatte keine Scham, doch Ivy glich aus, an was es ihm mangelte. Die arme Ivy zog sich von der Welt zurück und hatte in ihrer schrecklichen Einsamkeit nur einen einzigen Gefährten: Gil Trip (“guilt Trip” - Schuldbewusstsein).
Gil war ein niederes, schleimiges Wesen, das über Ivy kroch und an ihren Blättern, ihrem Stengel und ihren Wurzeln knabberte. Gil hielt Ivy so, wie alle anderen, krank und beschädigt in jenem Tal zurück.
Doch eines Tages traf Ivy eine Befreierin. “Wer bist Du?” fragte sie erstaunt. “Ich bin deine gute Fee, die man als Susan aus dem Norden kennt. Pack dein Bündel, und zwar rasch. Du wist entwurzelt.” Ivy geriet in Panik. “Aber ich komme nicht über den Fluss.” weinte sie. “Doch, doch” beschwichtigte sie Susan. “Du kannst auf meiner Empörung reiten. Die hat mich weit gebracht und wird dich mitnehmen.” Ivy klammerte sich an die Empörung, die sie noch nie erlebt hatte, und ließ sich von ihr weit fort aus dem Tal ihres Unglücks tragen.

Abgesehen von ihren Einsichten ermöglichten die wunderbare Fantasie und der Humor Tracy, einen Teil der spielerischen Eigenschaften wieder einzufangen, auf denen in ihrer Kindheit so herumgetrampelt worden war.

Einige Klienten protestieren, wenn ich ihnen das Märchen aufgebe, und behaupten, sie könnten nicht schreiben, oder dass ein Märchen zu schreiben frivol sei. Aber das Märchen erweist sich immer als eine der bewegendsten und heilendsten Übungen.
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