Mein 20-Löffel-Experiment basierend auf "The Spoon Theory"
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Hallo,

vor einiger Zeit bin ich auf einem englischsprachigen Forum auf eine Geschichte einer Frau mit der Erkrankung Lupus gestoßen. Ihr Name ist Christine Miserandino und sie hat – wie ich finde – einen sehr eindrucksvollen und hilfreichen Weg gefunden, Menschen zu vermitteln, wie sich das Leben mit einer nicht sichtbaren, chronischen Erkrankung, die sehr viel Kraft/Energie, Bewusstsein, Selbstfürsorge und Planung erfordert, oft gestaltet.

Die Geschichte ist im Original (Englisch) hier zu finden (und darf leider nicht anderswo gepostet bzw. veröffentlicht werden; eine deutsche Übersetzung gibt es bisher auch noch nicht): http://www.butyoudontlooksick.com/wpres ... on-theory/

Für mich ist es so, dass ich oft auf Menschen treffe, die teilweise sehr bemüht sind, mich und mein Leben mit PTBS zu verstehen, denen es aber trotzdem nicht gelingt. Für mich ist dabei der Kraft/Energie-Aspekt ganz zentral. Für Dinge, die für viele Menschen ganz normal sind (wie z. B. früh aufzustehen, mit dem Bus zu fahren, gut zu schlafen) brauche ich wahnsinnig viel Kraft/Energie und teilweise auch gute Planung.

Ich schlafe fast jede Nacht schlecht, wälze mich im Bett herum, wache oft auf, habe manchmal schlimme Träume. Ich bekomme also nachts keine wirkliche, bzw. nur sehr begrenzt, Erholung. Wenn ich mit dem Bus fahre, bekomme ich manchmal Ängste (früher auch oft Panikattacken, heute ganz selten). Mir machen viele Menschen Stress – und das „aneinander Kleben“, wenn der Bus fast schon überfüllt ist, erst recht. Um meinen Stresslevel so niedrig wie möglich zu halten, plane ich viel. Das bedeutet z. B. auch, dass ich Termine möglichst so lege, dass ich nicht zur Rush Hour quer durch die Stadt fahre, oder gleich alles erledige, was ich erledigen muss, so dass ich mich den Ängsten unter Menschen nur ein Mal stellen muss – denn Ängste auszuhalten (z. B. während der Busfahrt oder beim Einkaufen), kostet ja auch wieder viel Kraft und Energie. Dann muss ich Pausen einplanen, z. B. nach einem Besuch bei meinem Patenkind, dessen Vater mich massiv stresst und manchmal auch triggert, nehme ich noch zwei Tage frei, um einfach allein zu sein und die Nachwirkungen ohne weitere Belastungen durchzuleben, so dass sie dann „weg“, also verarbeitet sind. Eins meiner, wie ich finde schlimmsten Symptome der PBTS ist, dass ich komplexere Situationen nicht zeitgleich verarbeiten („verstoffwechseln“) kann. Mit „komplexere Situationen“ meine ich das, was im Kontakt mit Menschen abläuft, im Außen (ich muss agieren, reagieren) und im Innen (emotional, Stress/Trigger, evtl. auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig (z. B. mit dem Vater meines Patenkindes als solchen (Vater), aber auch als Witwer meiner Freundin, als meinen einzigen Kontakt zum Kind, etc.).

Die alltäglichen Dinge (Besuche bei Bekannten, Busfahren, schlafen) sind Dinge, die für einen gesunden Mensch normalerweise problemlos sind. Mich kosten sie viel Kraft/Energie, die ich an anderer Stelle leider auch nicht mehr in der Menge, wie ich es bräuchte, rein bekomme... ich würde mich beschreiben wie einen Handyakku, der schon alt ist, und, egal, wie lange ich ihn auflade, einfach nicht mehr voll wird und oft auch nicht mehr nur halbvoll.

Um jemand anderes verständlich zu machen, wie man selbst sein Leben (er)lebt, zu vermitteln, wie viel Energie man für „normale“ Dinge braucht und wie wenig Energie man hat – dazu kann die „Löffel-Theorie“ von Christine helfen. Bei der „Löffel-Theorie“ stehen die Löffel für die Kraft/Energie, die man für die Dinge, die man an einem Tag so tut.

Ich habe das Ganze für mich als „Mein 20-Löffel-Experiment“ aufgeschrieben. Ich denke, jeder, der dieses „Experiment“ mit jemand anders durchführt, muss es sich selbst und seiner eigenen Situation anpassen. Der eine hat vielleicht nur 10 Löffel an einem durchschnittlichen Tag zur Verfügung, der andere 15 oder 25. Bei mir variiert die Anzahl an „Löffeln“, die ich zur Verfügung habe – je nachdem, wie viel in meinem Leben gerade passiert, mit wie vielen „Löffeln“ ich in einen Tag starte, wie viel Stress (im Innen und Außen) aktuell dazu kommt und welche Symptome gerade vorherrschen und wie stark.

Hier ein für mich ein Auszug aus einem für mich durchschnittlichen Tag:

Mein 20-Löffel-Experiment mit Anna

Anna ist eine Freundin, die ich noch nicht so lange kenne, aber mit der ich mich sehr gut verstehe. Sie weiß, dass ich traumatische Erfahrungen gemacht und PTBS habe. Trotzdem kann sie sich nicht „richtig“ in mich und mein Leben mit meiner PTBS hineinversetzen. Manchmal ist sie enttäuscht, dass ich z. B. zu gewissen Unternehmungen nicht mitkomme und dass sie mich weniger sieht, als sie möchte (weil ich viel Zeit brauche, mich immer wieder zu erholen, Abstand zu bekommen, Dinge zu verarbeiten, etc.. Ich habe Anna gefragt, ob sie bereit dazu wäre, sich auf ein kleines Experiment einzulassen und sie sagte ja. Für manche Leute ist es wichtig zu wissen, dass bei diesem Experiment nicht Schlimmes passiert, es nur darum geht, 20 Löffel in die Hände zu nehmen und sich gedanklich von mir durch einen Tag führen zu lassen.

Anna ist da und wir setzen uns gegenüber voneinander hin. Ich gebe ihr 20 kleine Löffel in die Hände.

Ich bitte sie, die Löffel zu zählen. Wenn sie fragt, warum, erkläre ich ihr, dass die Löffel für die Kraft/Energie stehen, die ich über den Tag zur Verfügung habe und erkläre, dass ich mit meiner Kraft/Energie sehr bewusst umgehen muss, damit ich die Dinge, die ich an einem Tag so erledigen muss, auch wirklich schaffe.

Ich frage Anna dann, was sie an einem normalen Tag so macht. Wenn Anna direkt eine ganze Liste an Dingen nennt und Aufwachen und Aufstehen nicht dabei sind, unterbreche ich sie und sage, dass sie am Morgen erst einmal aufwachen und aufstehen muss. Wenn sie das bestätigt, nehme ich ihr einen Löffel aus den Händen. Ich nehme ihn ihr einfach weg, auch wenn sie die Löffel ganz festhält – bitten tue ich sie nicht (weil meine PTBS mich auch nicht fragt, ob ich die Kraft/Energie gerade aufwenden will oder nicht, sie verlangt sie einfach von mir).

Dabei erzähle ich ihr dann (von mir aus gehend) etwas wie: „Nein, du wachst früh nicht einfach auf und bist wach. Obwohl in der Nacht vorher um 23 Uhr ins Bett gegangen bist, konntest du leider erst um 2 Uhr einschlafen. Während der Nacht hattest du dann Albträume, hast dich hin- und hergewälzt und bist irgendwann mit Panik und Herzrasen aufgewacht. Als dann der Wecker klingelt, bist du total gerädert und erschöpft.“ Ich nehme Anna jetzt wieder einen Löffel weg und rede weiter: „Deine Augen gehen nicht richtig auf und dir alles weh. Du driftest immer wieder kurz weg, weißt aber, du musst aufstehen, weil du pünktlich in der Arbeit sein musst. Nach einer halben Stunde stehst du auf.“

Dann frage ich Anna, was sie nach dem Aufstehen als nächstes macht. Ist die Antwort z. B. „duschen“, sage ich zu ihr: „Du duschst also und ziehst dich danach an.“ Dabei nehme ich ihr wieder einen Löffel weg.

Von Anna kommt dann etwas wie: „Dann gehe ich in die Küche und mache mir Frühstück.“ Da nehme ich Anna zwei Löffel auf einmal weg und erkläre: „Das klappt leider nicht. Du bist mittlerweile schon zu spät dran, hast keine Zeit mehr für Frühstück, sonst kommst du zu spät ins Büro. Du musst jetzt schnell deine Sachen schnappen und zum Bus rennen."

Wenn das Gegenüber mehrmals erlebt hat, dass man selbst ihm vermeintlich „einfach so“, also ohne zu fragen oder zu bitten, Löffel wegnimmt, kommt es oft irgendwann zu einer Reaktion darauf. Zum Beispiel wird das Gegenüber langsam verärgert, fühlt sich hilflos oder ähnliches. Das ist bei Anna jetzt der Fall. Sie sagt zum Beispiel: „Aber ich muss doch was essen und einen Kaffee brauche ich auch!“ Ich sage dann etwas wie: „Du kannst nicht zu spät ins Büro kommen. Das bist du schon zwei Mal die Woche. Kaffee und was zu essen kannst du dir unterwegs kaufen.“

So geht das Experiment weiter durch den Tag. Z. B. gehe ich dann zum Bus, der um die Uhrzeit rappelvoll ist. Für die Busfahrt nehme ich Anna dann einen Löffel ab – weil ich bei vollem Bus gestresst werde, eng an eng mit anderen Menschen stehen muss und mir das Angst macht. Wenn eine Kindergartengruppe mit im Bus ist, wird es außerdem noch laut und ich gerate (nach einer solchen Nacht wie beschrieben) schnell an meine Grenzen. Dann nehme ich Anna vielleicht noch einen Löffel extra weg.

Irgendwann – bei mir meist vor oder spätestens mit Ende des Arbeitstages -gehen Anna dann die Löffel aus, wie mir die Kraft/Energie. Oft kommen dann Reaktionen wie: „Aber ich habe donnerstags doch noch meinen Spanischkurs bei der VHS!“ Und dann reagiere ich darauf mit etwas wie: „Dann kannst du da heute nicht hingehen. Du kannst keine Kraft mehr übrig. Jetzt musst du erst mal etwas für dich tun, um wieder Löffel zu bekommen. Zum Beispiel mache ich meistens nach einem Arbeitstag erst mal mehrere Stunden Pause. Da sitze ich einfach nur und lasse alle Gedanken kommen, die sich über den Tag so angesammelt haben. Trinke einen Tee oder liege einfach nur erschöpft auf der Couch. Nach ein paar Stunden habe ich dann wieder einen oder zwei Löffel.“ Ich gebe Anna zwei Löffel und sage weiter: „Jetzt ist es 19 Uhr. Was würdest du jetzt am liebsten tun?“

Oft überlegt dann das Gegenüber, weil es die Bedeutung der Löffel verstanden hat und weil klar geworden ist, wie wertvoll jeder einzelne davon ist. Während Anna überlegt, nehme ich Anna einen Löffel wieder weg und erkläre: „Dir ist gerade wieder eingefallen, dass du vergessen hast, einkaufen zu gehen. Jetzt musst du noch schnell zum Supermarkt laufen, sonst hast du morgen kein Duschgel.“

Anna hat jetzt noch einen Löffel in der Hand. Wenn sie mir dann sehr betroffen erscheint, sage ich: „Ich würde diesen einen Löffel jetzt „sparen“. Manchmal brauche ich „Extra-Löffel“, z. B. für einen Zahnarzttermin oder eine Party. Da möchte ich die Freundin, die mich einlädt, nicht enttäuschen und kommen und mitfeiern... und das geht nur mit genug Kraft und Energie.“

Je nachdem, wie gut ich mein Gegenüber kenne und wie sehr ich ihm vertraue, erzähle ich mehr oder weniger detailliert, wie die jeweilige Situation ist, die mich Löffel kosten. Man kann das Experiment also auch mit Menschen machen, die einem nicht so nah sind. Dann kann man z. B. sagen „ich habe schlecht geschlafen“ anstatt „ich hatte Albträume, habe mich hin-und hergewälzt, etc.“ Meine Erfahrung ist, dass Menschen aber oft ihre eigenen Definitionen von den Wörtern haben, die sie benutzen, d. h. jeder Mensch schläft mal schlecht, auch gesunde Menschen. Meine Erfahrung ist: Je deutlicher ich werde, desto klarer wird meine Situation meinem Gegenüber.

Was bei manchen Menschen auch hilft, ist eine Analogie. Wenn jemand immer weniger Löffel in den Händen hält, meine Situation aber noch nicht begreift, hilft es oft, einen Vergleich zu finden. Man könnte z. B. erklären, dass es sich mit Löffeln verhält wie mit Geld: Wenn ich 20 Euro habe, kann ich nur die 20 Euro ausgeben. Sind sie weg, habe ich nichts mehr übrig. In Ausnahmefällen kann ich mir Geld leihen – aber das muss ich natürlich zurückzahlen. Und so kann ich eben auch Geld ansparen, um mir irgendwann vielleicht etwas zu kaufen, was 30 Euro kostet.

Ich weiß von einigen Menschen, die das Löffel-Experiment auch mit ihren Therapeuten (Traumatherapie) gemacht haben. Deren Therapeuten hatten vorher auch einen eher theoretischen Einblick in das Leben dieser Menschen... und das Experiment hat ihnen geholfen, „richtig“ zu verstehen.

Vielleicht kann dem/der einen oder anderen von euch das Experiment auch helfen, eure Situation z. B. einem geliebten Menschen verständlicher zu machen. :)
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