Vergiftete Kindheit
von Susan Forward
Ich finde ein sehr gelungenes Buch und sehr feinfühlig geschrieben, ich hatte viel AhA Erlebnisse und es flossen einige Tränen bei Erkenntnissen, die ich daraus gewann.
In diesem Buch geht es um die elterliche Macht und ihre Folgen. Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um die verschiedenen Methoden, mit denen Eltern ihren Kinder weh taten und es vielleicht immer noch tun, auch wenn die Kinder schon erwachsen sind. Darunter fallen z.B. "Rabeneltern", Kontolleure, Alkoholiker, Verbale Misshandlungen, Körperliche Misshandlungen, Sexueller Missbrauch, sowie die Frage, warum sich Eltern so verhalten, und welche Folgen das alles für die Opfer hat.
Im zweiten Teil geht es darum, was man wie für sich verändern kann. Es geht dabei um die Fragen der Verantwortung, Heilung, Durchbrechen des Teufelskreises u.s.w. Dabei gibt es auch ein paar Behandlungstechniken, die die Autorin (selber Therapeutin) bei ihren Patienten angewandt hat.
Liebes Annele,
danke für die Vorstellung. Ich glaub, ich werd mir das Buch kaufen.
LG
Kerzenlicht
Hallo Ihr Lieben, ich habe mir das Buch gekauft und es gelesen und ich bin wirklich davon begeistert. Deswegen hier eine Leseprobe, die ich mit der Zeit noch ergänzen werde.
Erklärung des Textes
Susan Forward hat intensiv mit Missbrauchsopfern gearbeitet und bezeichnet immer den Missbrauch als Inzest, auch wenn er nicht von Familienmitgliedern begangen wurde. Außerdem ist sie der Meinung, dass Missbrauch das existierende Böse ist.
14: Heilung der Inzestwunden
Professionelle Hilfe ist ein Muss für Menschen, die als Kinder sexuell missbraucht wurden. Meiner Erfahrung nach reagiert niemand dramatischer und umfassender auf Therapie als Inzestopfer, trotz des Ausmaßes ihres Problems.
In diesem Kapitel werde ich ihnen Behandlungstechniken schildern, die ich im Verlauf der Arbeit mit mehr als 1000 Inzestopfern entwickelt und verfeinert habe. Ich schildere sie ihnen, weil ich möchte, dass sie erkennen, wie viel Hoffnung besteht und wie ungewöhnlich die Heilung verlaufen kann. Sie sollten diese Arbeit allerdings nicht allein unternehmen.
Wenn sie sich gegenwärtig in Therapie befinden, schlage ich vor, Ihren Therapeuten aufzufordern, die Arbeit mit Ihnen gemeinsam anzugehen. Dieser besondere Heilungsprozess hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Der Weg ist deutlich und klar vorgezeichnet. Wenn Sie ihm folgen werden Sie Ihre Würde und Ihre Selbstachtung wiedererlangen.
Ich weiß, dass manche Therapeuten und Inzestklienten den Begriff Inzestüberlebender statt Inzestopfer bevorzugen. Meiner Meinung nach ist Inzestopfer eine genauere Beschreibung der indíviduellen Erfahrung. Mit dieser semantischen Entscheidung für Überlebender macht man Schmerzen erträglicher, solange das Wort nicht benutzt wird, um zu leugnen, dass viel Arbeit geleistet werden muss.
Warum brauche ich Therapie?
Wenn Si als Kind sexuell belästigt worden sind, werden alle oder die meisten der folgenden Bemerkungen auf Sie zutreffen:
1. Sie haben ein tief sitzendes Gefühl von Wertlosigkeit, Schuld und Scham.
2. Sie werden leicht von anderen ausgenutzt und ausgebeutet.
3. Sie glauben, alle anderen seien wichtiger, als Sie.
4. Sie glauben, der einzige Weg, Liebe zu bekommen, bestehe darin, für andere zu Ihrem eigenen Nachteil zu sorgen.
5. Sie finden es schwer Grenzen zu ziehen, Wut auszudrücken oder “Nein” zu sagen.
6. Sie ziehen grausame oder misshandelnde Menschen in Ihr Leben und sind überzeugt,Sie könnten diese dazu bringen, Sie zu lieben oder nett zu ihnen zu sein.
7. Sie finden es schwer, zu vertrauen und erwarten, von anderen verraten oder verletzt zu werden.
8. Ihnen sind Sex oder Ihre eigene Sexualität unangenehm.
9. Sie haben gelernt, zu spielen, alles sei in Ordnung, auch wenn das nicht zutrifft.
10. Sie sind überzeugt, weder Erfolg, noch Glück, noch eine gute Beziehung zu verdienen.
11. Sie finden es schwer, spielerisch oder spontan zu sein.
12. Sie haben das Gefühl, nie ein Kind gewesen zu sein.
13. Sie sind oft wütend auf ihre eigenen Kinder und ärgern sich darüber, dass sie es besser haben, als Sie damals.
14. Sie fragen sich, wie es ist, normal zu sein.
Das Muster, das Sie immer wieder zum Opfer macht, bestimmt Ihr Leben schon seit langer Zeit. Es ist hartnäckig und allein nur mit Schwierigkeiten zu durchbrechen, aber eine Therapie kann Sie erfolgreich aus seinem Griff befreien.
Die Wahl eines Therapeuten
Es ist sehr wichtig, sich nach einem Therapeuten umzusehen, der Erfahrung in der Arbeit mit Inzestopfern hat. Viele Therapeuten sind auf diesem hoch spezialisierten Gebiet nicht bewandert. Und praktisch kein Therapeut lernt während seiner Ausbildung etwas über Inzest. Fragen Sie jeden in Frage kommenden Therapeuten nach seiner besonderen Ausbildung und Erfahrung. Wenn er nicht an Workshops, Seminaren, Konferenzen oder Kursen über Inzestbehandlung teilgenommen hat, suchen sie sich besser einen anderen.
(Hier möchte ich anmerken, dass die Autorin in Amerika praktiziert. Ob alles auf deutsche Verhältnisse übertragbar ist, kann ich nicht sagen, aber die Nachfrage nach einer besonderen Ausbildung und Erfahrung ist auf jeden Fall wichtig, auch hier)
Therapeuten, die in Familientherapie ausgebildet sind und handlungsorientierte Techniken wie das Rollenspiel anwenden, sind die besten Berater für Inzestopfer, freudianische Psychiater die schlechtesten, denn Freud hat seine ursprüngliche (und zutreffende) Meinung über die Häufigkeit und Schädlichkeit von Inzest deutlich revidiert. Als Folge dessen begegnen viele freudianische Psychiater und Analytiker Berichten von Kindheitsbelästigungen mit Skepsis oder Ungläubigkeit.
In den letzten 10 Jahren haben sich überall Selbsthilfegruppen für Inzestopfer gebildet. Diese Gruppen gewähren Unterstützung und das Gefühl, nicht allein zu stehen, aber sie können Ihnen nicht das Gleiche wie ein Therapeut mit Erfahrung im Strukturieren und Anleiten vermitteln. Eine Selbsthilfegruppe ist mehr als nichts, aber es ist weitaus besser, sich einer von einem Experten geleiteten Gruppe anzuschließen.
Einzel- oder Gruppentherapie?
Ein fast unumgängliches Gefühl bei Inzest ist die völlige Isolierung. Doch wenn sie sich unter Menschen befinden, die über Gefühle und Erfahrungen reden, die den Ihren sehr ähneln, schwindet diese Einsamkeit. Die Mitglieder der Gruppe unterstützen Sie und kümmern sich um Sie. Grundsätzlich sagen sie: “Wir wissen, wie Du dich fühlst. Es tut uns mit dir weh. Wir mögen dich und wollen, das es dir so gut Geht, wie möglich.”
Nur wenige Menschen fühlen sich in einer Gruppe nicht wohl, obwohl die meisten anfangs ängstlich sind. Sie fühlen sich vielleicht angespannt und verlegen, vor anderen Menschen “darüber” zu reden. Aber glauben Sie mir, diese Gefühle halten selten länger, als 10 min an.
Eine kleine Minderheit von Inzestopfern in einer Gruppe ist allerdings emotional zu empfindlich, um die Intensität der Gruppe zu bewältigen. Für sie besteht die Alternative in der Einzeltherapie.
Ich habe immer gemischte Gruppen mit Männern und Frauen. Die Gefühle und Traumata sind die gleichen.
Die Inzest-Therapiegruppen in meinem Behandlungszentrum sind offen. Das bedeutet auch, das jemand, der gerade erst mit dieser Arbeit beginnt, sich in einer Gruppe mit Personen in verschiedenen Stadien der Heilung befindet. Es ist sehr ermutigend, andere zu sehen, die kurz vor dem Abschluss stehen und die Inzesterfahrung bald hinter sich lassen können.
Die erste Gruppensitzung
Wenn ein neuer Klient in eine Gruppe kommt, beginnen wir die Sitzung mit einer Initiationsübung, bei der jedes Mitglied von seiner oder ihrer Inzesterfahrung spricht - mit wem sich was abspielte, wann es begann, wie lange es sich fortsetzte und wer darüber Bescheid wusste. Das neue Mitglied ist zuletzt an der Reihe.
Diese Initiation bricht das Eis, damit man sich aktiv an der Gruppe beteiligen kann. Vielleicht reden Sie zum ersten Mal überhaupt offen über Ihre Erfahrung. Sie werden erkennen, dass Sie nicht allein sind und dass andere Menschen ähnliche Dinge erlitten haben.
Ihre Initiation ist auch Bestandteil des wichtigen Desensibilisierungsprozesses der anderen Gruppenmitglieder. Jedes Mal, wenn ein neuer Klient initiiert wird, müssen die bisherigen Mitglieder wiederholen, was so lange unausgesprochen blieb. Je öfter dies geschieht, um so stärker wird jeder in der Gruppe gegenüber Scham und Schuldgefühlen desensibilisiert. Das erste Mal ist für alle schwierig. Es wird häufig geweint, und Verlegenheit herrscht vor. Beim dritten oder vierten Mal wird es schon leichter, darüber zu reden, und die Verlegenheit schwindet merklich. Wenn man seine Geschichte zehn oder zwölf mal erzählt hat, ist es nicht schwieriger, als über jede andere Lebenserfahrung zu reden.
Behandlungsstadien
Ich leite Inzestopfer durch drei Grundstadien: Empörung, Trauer und Befreiung.
Empörung ist eine tief sitzende Wut, die aus der Verletzung und dem Verrat des Kerns einer Person herrührt. Dieser erste, wichtige Teil der Arbeit ist am schwierigsten.
Die meisten Erwachsenen, die als Kinder belästigt wurden, haben sich oft genug traurig, einsam und schlecht gefühlt. Kummer ist ihnen vertraut, aber Empörung nicht. Deshalb versuchen sie oft, dies zu überspringen und so rasch wie möglich zur Trauer überzugehen. Das ist aber ein Fehler. Empörung muss der Trauer vorangehen. Natürlich ist es unmöglich, intensive Gefühle völlig getrennt zu halten - in Trauer ist Empörung enthalten, in Empörung Trauer. Aber um das Ziel unserer Arbeit zu erreichen, müssen wir in getrennten Stadien arbeiten.
Die Empörung des Opfers
Um die Verantwortung entschieden dort zu platzieren, wohin sie gehört, müssen sie ihre Empörung akzeptieren und in der sicheren Situation der Therapie lernen, sie herauszulassen.
Für viele ist dies leichter gesagt, als getan. Sie haben sie jahrelang in sich verschlossen und Ihre Empörung vielleicht so wirksam unterdrückt, dass Sie zu einem unterwürfigen, sich aufopfernden Perfektionisten geworden sind. Es ist, als sagten Sie: “Ich bin nicht gestört und kann das beweisen, indem ich perfekt bin. Ich opfere mich für andere auf. Ich werde nie wütend und tue immer, was man mir sagt.” Diese Empörung herauszulassen, ist wie die Sprengung eines Vulkans. Die Eruption kann einen leicht überwältigen.
Wenn Sie ihre Wut völlig aus dem Bewusstsein verdrängt haben, sind Sie auch besonders empfänglich für körperliche oder emotionale Symptome wie Kopfschmerzen und Depressionen.
Manchmal besteht das Problem nicht darin, in Kontakt mit der Wut zu treten, sondern sie zu kontrollieren. Sie schäumen vielleicht vor Wut auf alle in Ihrer Umgebung, nur nicht auf diejenigen, auf die Sie wirklich wütend sind - Ihre Eltern. Sie sind sehr verletzlich und verlagern Ihre Wut von den Eltern auf jeden, der Ihnen in die Quere kommt. Sie verhalten sich so gereizt und aggressiv, dass Sie alle anderen vor den Kopf stoßen.
Die Techniken, die ich ihnen im weiteren Verlauf dieses Kapitels zeige, erlauben Ihnen, Ihre Empörung auf kontrollierte Weise loszuwerden, das Druckventil langsam zu öffnen und Ihre Wut freizusetzen.
Die Trauer des Opfers
Während des Heilungsprozesses werden Sie viele Verluste aktiv betrauern - den Verlust der Fantasie von der “heiligen Familie”, von der Unschuld, von Liebe, von Jahren, die andernfalls glücklich und produktiv gewesen wären. Diese Trauer kann Sie überwältigen. Ihr Therapeut muss den Mut und die Erfahrung haben, Sie hindurchzuleiten und zum Licht am Ende des Tunnels zu führen. Wie bei jeder Trauer gibt es keinen leichten Ausweg oder eine Abkürzung.
Befreiung und Bestärkung
Im letzten Stadium der Behandlung , wenn sie Ihre Empörung und Ihre Trauer ausgeschöpft haben, werden Sie lernen, die Ihnen abgeforderte Energie zu benutzen, um Ihr Leben und Ihr Selbstbild neu aufzubauen. Zu diesem Zeitpunkt werden Ihre Symptome entweder deutlich nachgelassen haben, oder sie können bewältigt werden. Sie haben neue Würde und ein neues Selbstgefühl als eine wertvolle, liebenswerte Person. Sie sehen zum ersten Mal in Ihrem Leben Wahlmöglichkeiten - weil Sie sich nicht länger wie ein Opfer fühlen und verhalten.
Behandlungstechniken
Die beiden Grundtechniken, die ich bei der Behandlung von Inzestopfern anwende, sind Briefe schreiben und Rollenspiel. Ich habe auch eine Reihe von Gruppenübungen entwickelt, die sich besonders bei Inzestopfern als erfolgreich erwiesen haben, aber auch bei anderen erwachsenen Kindern giftiger Eltern. Diese Techniken können sowohl in Gruppen- wie in Einzeltherapie angewendet werden. Da in meinem Behandlungszentrum nur ein kleiner Prozentsatz der Inzesttherapie in Einzelsitzungen erfolgt, habe ich meine Beispiele aus Gruppensitzungen ausgewählt.
Briefe
Ich bitte jedes Gruppenmitglied, pro Woche einen Brief zu schreiben, besonders am Anfang. Sie schreiben diese Briefe zu Hause und lesen sie den anderen Mitgliedern vor. Es wird von niemanden verlangt, diese Briefe auch abzuschicken, doch viele tun dies, besonders, wenn sie sich stärker fühlen. Ich fordere die Klienten auf, die Briefe in der folgenden Reihenfolge zu schreiben:
1. an den Aggressor, die Aggressoren,
2. an den anderen Elternteil, in der Annehme, dass der eine der Aggressor war; falls Erwachsene von einem anderen Familienmitglied, als den Eltern
belästigt wurden, sollten sie zuerst an diesen schreiben und dann an beide Eltern getrennt,
3. an das gestörte Kind vom Standpunkt des erwachsenen Selbst aus,
4. ein “Märchen” über ihr Leben,
5. an ihren Partner oder Freund, falls vorhanden,
6. an jedes ihrer Kinder.
Nach dieser Briefserie bitte ich die Gruppenmitglieder, noch einmal von vorn zu beginnen. Auf diese Weise werden die Briefe nicht nur zu wirksamen Instrumenten bei der Heilung, sondern auch zu einem aussagekräftigen Barometer für den Erfolg. Ein in den ersten Wochen der Therapie geschriebener Brief kann im Tonfall und Inhalt deutlich anders ausfallen, als einer, der drei oder vier Monate später geschrieben wurde.
Brief an den Aggressor
Im ersten Brief, an den Aggressor, sollten Sie alles herauslassen und so empört, wie möglich werden. Benutzen Sie Wendungen wie: “…du wagtest es!”, “Wie konntest du…” so oft, wie möglich. Das erleichtert Ihnen, in Kontakt mit Ihrer Wut zu treten.
Als ich Janine zuerst traf, eine zierliche, blonde, sechsunddreißigjährige Frau, sprach sie akut lauter, als flüsternd. Ihr Vater hatte sie im Alter von sieben bis elf Jahren sexuell belästigt, aber Janine klammerte sich immer noch an die Hoffnung, irgendwie seine Liebe erringen zu können. Sie zögerte sehr stark, ihre innere Wut auf ihn zu akzeptieren. Bei der Initiation weinte sie, und fühlte sich offensichtlich unbehaglich, als ich sie bat, ihrem Vater zu schreiben. Ich forderte sie auf, den Brief zu benutzen, um auf den Vater wütend zu werden, der sie verletzt und verraten hatte, und erinnerte sie daran, dass er diesen Brief ja nie zu sehen bräuchte.
Auf Grund unserer Arbeit erwartete ich, dass ihr erster Brief zögernd, sehnsüchtig und voller Wunschdenken sein würde. Doch dann kam die Überraschung:
Show Content
Lieber Papa,
“lieb” bist Du ja eigentlich nicht und mein Vater bist Du auch nur, weil Du dein Sperma eines Nachts in Mutter praktiziert hast. Ich hasse dich und Du tust mir leid. Wie konntest Du es wagen, deine kleine Tochter so zu behandeln?
Wo ist meine Unberührtheit, Papa? Wo ist mein Selbstrespekt? Ich habe nichts getan, deinen Hass zu verdienen. Ich habe nie versucht, dich zu erregen. Sind kleine Mädchen enger, oder was war es? Erregen dich kleine Brüste mehr, du Schwein? Ich hätte dich bespucken sollen. Ich hasse mich, weil ich nicht den Mut hatte, mich gegen dich zu wehren. Wie konntest Du es wagen, deine Macht als Vater zu benutzen, um mich zu vergewaltigen? Wie konntest Du es wagen, mich zu verletzen? Wie konntest Du es wagen, nie mit mir zu reden?
Als ich klein war, hast Du mich einmal an der Hand ins Meer geführt und getan, als wolltest Du es mit mir durchwaten. Erinnerst Du dich daran? Du hattest so schöne blaue Augen und ich vertraute dir. Ich wollte so sehr, dass Du mich respektierst. Ich wollte, dass Du auf mich stolz bist. Du warst mehr für mich, als nur ein Kinderschänder, aber das war dir egal. Ich werde nicht mehr so tun, als sei es nicht geschehen. Es ist geschehen, Papa, und es brennt immer noch in mir.
Janine
Janines Brief brachte mehr Gefühle an die Oberfläche, als stundenlanges Reden jemals vermocht hätte. Sie war von der Intensität ihrer Gefühle erschrocken, doch von dem Wissen getröstet, dass sie einen sicheren Ort kannte, an dem sie sie zum ersten Mal erforschen und ausdrücken konnte.
Connie, eine rothaarige Bankangestellte, deren Vater sehr früh begonnen hatte, sie zu belästigen, und die später ihren Selbsthass ausagierte, indem sie mit Hunderten von Männern schlief, war ein paar Monate vor Janine zu der Gruppe gestoßen. Connie brauste rasch auf und strahlte Aggressivität und Wut aus. Ich nenne sie zwar ein “rauhes Mädchen”, aber ich weiß noch, wie klein und verletzlich sie sich am Anfang fühlte. In ihrem ersten Brief an den Vater ergossen sich ihre Gefühle kreuz und quer über die Seiten, ohne Grenzen, ohne Form. Doch als Connie den zweiten Brief an ihren Vater vorlas, wurde deutlich, dass sowohl ihre Gefühle, als auch ihre Wahrnehmungen organisierter und konzentrierter geworden waren:
Show Content
Lieber Papa,
Es schein lange her, seit ich meinen ersten Brief schrieb - soviel hat sich verändert. Als ich anfing, war ich ein schreckliches Ungeheuer und verhielt mich in vieler Hinsicht wie Du. Der Inzest war schlimm genug, aber ich musste ja auch mit deiner Gewalttätigkeit und deinen ständigen Drohungen leben. Du warst ein Tyrann. Wie konntest Du es wagen, mir die Kindheit zu rauben? Wie konntest Du es wagen, mein Leben zu ruinieren?
Endlich fange ich an, die Scherben aufzusammeln. Du bist ein kranker gestörter Mensch. Du hast mich auf alle möglichen Weisen benutzt, wie man einen Menschen nur benutzen kann. Du hast mich zu einer Liebe gezwungen, wie es kein Vater von seiner Tochter verlangen darf, und ich hatte nicht die Macht, dir Einhalt zu gebieten. Ich fühlte mich nicht normal, ich fühlte mich schmutzig. Mein Leben war schlecht, und ich habe mich so selbstzerstörerisch verhalten, dass schon die geringste Veränderung eine Besserung bedeutet.
Ich kann deine und Mutters Probleme nicht lösen, aber meine eigenen. Und wenn bei diesem Prozess einer von euch oder beide verletzt werden, kann ich es nicht ändern. Ich habe nicht darum gebeten, sexuell belästigt zu werden.
Connie
Als Connie ihre Wut herausließ, befreite sie sich von einem Großteil ihres Selbsthasses und dem Ekel vor sich selbst. Je häufiger dies geschah, umso stärker konnte sie sich ihrer persönlichen Reifung und Heilung verpflichten.
Coco, vielleicht kann der Text dir ja Mut machen.
Ich bin noch nicht fertig, werde die komplette Behandlungsstrategie hier abdrucken.
LG
Kerzenlicht
Brief an den stummen Partner
Nach dem Brief an den Aggressor schreiben sie an den anderen Elternteil. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Ihre Mutter. Wenn sie meinen, Ihre Mutter wusste über den Inzest nicht Bescheid, kann dieser Brief die erste Gelegenheit bieten, diese Erfahrungen für sie in Worte zu fassen.
Wenn Sie meinen, Ihre Mutter habe von dem Inzest gewusst, oder wenn Sie es ihr schon mitgeteilt haben, als es passierte, empfinden Sie vermutlich starke Empörung, die Sie ihr gegenüber ausdrücken müssen, Empörung über den fehlenden Schutz, dass Ihnen nicht geglaubt wurde oder man Ihnen die Schuld gab, dass Sie als Opferlamm für die Aufrechterhaltung dieser destruktiven Ehe benutzt wurden, und dass Sie für Ihre Mutter weniger wichtig waren, als deren Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit und der Beibehaltung des Status quo.
Connies Brief an ihre Mutter ist ein typisches Beispiel für die ungeheure Ambivalenz von Inzestopfern gegenüber der Mutter. Der Brief begann mit einer Aufzählung der sexuellen Misshandlungen durch ihren Vater. Sie fuhr fort, indem sie aus ihrer Sicht die Rolle der Mutter in der Familie schilderte.
…ich fühle mich auch von dir verraten, Mutter. Mütter sollten ihre Kinder beschützen, aber das hast Du nicht getan. Du hast dich nicht um mich gekümmert, und daher konnte er mir so weh tun.
Wolltest Du das alles nicht sehen? Oder war es dir egal? Ich bin so wütend auf dich wegen all der einsamen, ängstlichen Jahre, die ich erlebt habe. Du hast mich verlassen. Der Friede mit ihm war dir so verdammt wichtig, dass Du mich geopfert hast. Es hat sehr weh getan, zu erkennen, dass ich dir nicht wichtig genug war, beschützt zu werden. Es hat so weh getan, dass ich meine Schmerzen verdrängen musste. Ich kann nicht mehr wie ein normaler Mensch fühlen. Meine Eltern haben mir nicht nur meine Kindheit geraubt, sondern auch meine Emotionen. Ich hasse dich und liebe dich gleichzeitig so sehr, dass ich völlig verwirrt bin. Warum hast Du dich nicht um mich gekümmert, Mami? Warum hast Du mich nicht einfach geliebt? Werde ich darauf jemals eine Antwort bekommen?
Connies eindringliche Schilderung ihrer Verwirrung spiegelt die Gefühle aller Inzestopfer wider, wenn die Mütter sie nicht beschützen. Connie drückte es so aus: “Tiere beschützen ihre Jungen…”
Brief an das verletzte Kind
In vieler Hinsicht ist der Brief an as verletzte Kind in Ihnen der schwerste, doch vielleicht ist er auch der wichtigste. Das Schreiben dieses Briefes beginnt mit dem Prozess, sich wieder Eltern zu geben. Das bedeutet, Sie müssen tief in sich suchen, um einen liebenden, wertvollen Elternteil für das verletzte Kind zu finden, das Sie immer noch in sich tragen. Es ist ein Elternteil, der durch diesen Brief denjenigen Bereich in Ihnen tröstet, beruhigt und schützt, der immer noch verletzlich und ängstlich ist.
Viele Menschen, die als Kinder sexuell misshandelt wurden, sind von ihrem inneren Kind entfremdet. Ihre Scham drückt sich in Verachtung und Hass für jenes “unzulängliche”, hilflose Kind aus.
Um sich gegen solche extrem schmerzlichen Gefühle zu wehren, haben Sie vielleicht versucht, sich von diesem Kind zu distanzieren, aber es kann nur verborgen, nicht verlassen werden.
Ich möchte, dass Sie in diesem Brief versuchen, dieses Kind anzunehmen und wieder in Ihre Persönlichkeit zu integrieren. Seien Sie ein liebevoller Elternteil. Geben Sie diesem Kind die Liebe und Unterstützung, die Sie selbst nie hatten. Geben Sie ihm zum ersten Mal das Gefühl, wertvoll zu sein.
Dan, der Ingenieur, der während seiner gesamten Kindheit und Adoleszenz vom Vater sexuell missbraucht worden war, hatte lange den kleinen Jungen gehasst, der er einst gewesen war, den kleinen Jungen, der zu schwach gewesen war, sich gegen seinen Vater u wehren. Der folgende Auszug aus seinem Brief an diesen kleinen Jungen zeigt, wie dramatisch diese Gefühle sich nach nur wenigen Sitzungen verändert hatten:
Lieber kleiner Dan,
Du warst ein wunderbares Kind, eine Unschuld. Du warst die reine Liebe. Ich werde mich von nun an um dich kümmern. Du warst begabt und sehr kreativ. Ich werde dir Stimme geben. Jetzt bist Du sicher. Du kannst lieben und Liebe empfangen. Du wirst nicht mehr verletzt. Jetzt kannst Du unterscheiden. Ich werde mich um uns beide kümmern. Ich bringe uns wieder zusammen. Wir waren immer getrennt und haben verschiedene Rollen gespielt, weil wir lernen mussten, mit allem fertig zu werden. Du bist nicht verrückt. Du hattest Angst. Er kann dir nun nicht mehr weh tun. Ich habe mit dem Trinken und mit den Drogen aufgehört, die deine Wut, deine Empörung, deine Traurigkeit, deine Depression, deine Schuldgefühle und deine Angst verbargen. Diese Gefühle kannst Du jetzt ablegen. Ich habe aufgehört uns zu bestrafen wie er. Ich habe mich dem Schicksal ergeben. Wir sind wertvoll. Ich bin wertvoll. Die Welt, die wir erfanden, ist zu Ende. Wir erwachen. Es tut immer noch weh, aber nicht mehr so stark. Und endlich ist alles Wirklichkeit.
Dan
Dan benutzte diesen Brief nicht nur, um mit dem Kind in sich zu kommunizieren, sondern um sich zu versichern, dass seine Entscheidung, Drogen und Alkohol zu entsagen, ein Schritt sei, der sein Ich bestätigte und stabilisierte. Beim Schreiben dieses Briefes begriff er zum ersten Mal die Verbindung zwischen seinem selbstzerstörerischen Verhalten und den Schmerzen seiner Kindheit.
Das Märchen
Nach diesen drei Briefen sollen Sie Ihr Leben in märchenhafter Sprach und Begriffen beschreiben. Sie schreiben über sich selbst als kleine Prinzessin oder sanften jungen Prinzen, der bei bösen Königen oder hässlichen Monstern und Drachen in dunklen Wäldern oder Ruinen lebte. Sie beschreiben den Inzest als schwarze Pest, ein Gewitter oder das Ende aller Freude, je nachdem, was Ihre Fantasie Ihnen eingibt. Bei diesem Märchen schreiben Sie zum ersten Mal in der dritten Person, statt in der Ich-Perspektive. Das hilft, Ihre Innenwelt von einem neuen, objektiveren Standpunkt aus zu erkennen und emotionalen Abstand zwischen Ihnen und Ihren Kindheitstraumata zu schaffen. Indem sie das kleine Mädchen als “sie” statt “ich” bezeichnen, beginnt der scharfe Schmerz der Erinnerung nachzulassen. Wenn Sie Ihre Gefühle symbolisch ausdrücken, können Sie auf einer Ebene mit Ihnen umgehen, die sie bislang noch nicht erreicht haben, und neue, deutlichere Erkenntnis daraus gewinnen, was damals mit Ihnen geschah.
Die einzige Vorschrift dabei ist, dass Ihr Märchen trotz seines traurigen Anfangs ein glückliches Ende hat. Das Märchen ist immer die Allegorie Ihres eigenen Lebens, und es besteht tatsächlich Hoffnung. Das mögen Sie zu Beginn der Arbeit vielleicht nicht glauben, aber wenn Sie optimistisch über die Zukunft schreiben, beginnen sie, positivere Bilder zu sehen. Das ist besonders wichtig für Menschen, die sich keine glückliche Zukunft vorstellen können. Mit der Ausmalung eines glücklicheren Lebens können Sie beginnen, sich konkrete, erreichbare Ziele zu setzen, und wenn man erst einmal Ziele hat, besitzt man etwas, auf das man zuarbeitet.
Ich werde nie vergessen, wie Tracy - die von ihrem Vater, dem Versicherungsvertreter, sexuell missbraucht worden war, ihr Märchen vorlas. Es war sehr lang, daher folgt es hier nur in Auszügen. Die Wahrheit und die Hoffnung, die sie durch diese Übung finden konnte, änderten Tracys Sicht ihrer eigenen Situation dauerhaft.
Es war einmal eine kleine Pflanze, die in einem sehr einsamen, von Bergen umgebenen Tal lebte. Diese kleine Pflanze hieß “Ivy” (eine Abk. für “incest-victim” - Inzestopfer) und war recht unglücklich. Sie starrte oft zum Fluss und wünschte sich, ans andere Ufer zu entkommen.
Ivys kleiner Winkel wurde von dem berüchtigten König Moris Lester regiert, den man als Moe kannte. Wenn man seinen Spitznamen und den Nachnamen zusammenzieht, wird daraus Moe Lester (“molester” - Sexualtäter), und was man dann hört, ist auch, was man bekommt.
Moe hatte eine Leidenschaft für junge zarte Pflänzchen. Als Ivy zu blühen begann, erspähte Moe sie und war ganz begeistert von der Tatsache, das sie zwar reif war, aber noch so jung, wie sie nur sein konnte. Moe beging an Ivy eine schlimme Tat nach der anderen, aber dennoch verehrte sie ihn weiter und behandelte ihn wie einen König.
Moe hatte keine Scham, doch Ivy glich aus, an was es ihm mangelte. Die arme Ivy zog sich von der Welt zurück und hatte in ihrer schrecklichen Einsamkeit nur einen einzigen Gefährten: Gil Trip (“guilt Trip” - Schuldbewusstsein).
Gil war ein niederes, schleimiges Wesen, das über Ivy kroch und an ihren Blättern, ihrem Stengel und ihren Wurzeln knabberte. Gil hielt Ivy so, wie alle anderen, krank und beschädigt in jenem Tal zurück.
Doch eines Tages traf Ivy eine Befreierin. “Wer bist Du?” fragte sie erstaunt. “Ich bin deine gute Fee, die man als Susan aus dem Norden kennt. Pack dein Bündel, und zwar rasch. Du wist entwurzelt.” Ivy geriet in Panik. “Aber ich komme nicht über den Fluss.” weinte sie. “Doch, doch” beschwichtigte sie Susan. “Du kannst auf meiner Empörung reiten. Die hat mich weit gebracht und wird dich mitnehmen.” Ivy klammerte sich an die Empörung, die sie noch nie erlebt hatte, und ließ sich von ihr weit fort aus dem Tal ihres Unglücks tragen.
Abgesehen von ihren Einsichten ermöglichten die wunderbare Fantasie und der Humor Tracy, einen Teil der spielerischen Eigenschaften wieder einzufangen, auf denen in ihrer Kindheit so herumgetrampelt worden war.
Einige Klienten protestieren, wenn ich ihnen das Märchen aufgebe, und behaupten, sie könnten nicht schreiben, oder dass ein Märchen zu schreiben frivol sei. Aber das Märchen erweist sich immer als eine der bewegendsten und heilendsten Übungen.
Brief an Ihren Partner
Der nächste Brief sollte an Ihre(n) Partner(in) gerichtet werden. Wenn Sie keinen Ehemann, Liebhaber, Partner oder Freund haben, reicht ein ehemaliger Freund oder Ehemann. (Sie müssen ja auch diesen Brief nicht abschicken.) Erklären sie ihm oder ihr, wie Ihr Kindheitstrauma Ihre Beziehung beeinträchtigte. Sie müssen nicht die Verantwortung für jedes gemeinsame Problem übernehmen, aber Ihre Unfähigkeit, zu vertrauen, Ihr Bedürfnis, nachzugeben, und Ihre sexuellen Erfahrungen haben bestimmt ihren Tribut verlangt. Das Wichtigste an diesem Brief ist, dass Sie offen und ehrlich über das reden, was mit Ihnen geschah, denn es ist ein wichtiger Bestandteil des Prozesses, sich von ihrer Scham zu befreien.
Briefe an die Kinder
Ihre Briefserie endet mit einem Brief an jedes Ihrer Kinder. Wenn Sie keine haben, schreiben Sie vielleicht an das Kind, das Sie sich wünschen oder nie gehabt haben. Benutzen Sie diesen Brief, um Ihre Liebesfähigkeit neu zu bestätigen und zu begreifen, dass Sie die Kraft haben, ein besserer Elternteil zu sein, wenn Sie ihren Schmerz durcharbeiten und hinter sich lassen.
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